Ein Interview mit dem jüdischen Magazin "Golem" (1999)
Vier Antworten über eine europäisch-jüdische Identität
 
Die vier Fragen wurden vom Europäisch-Jüdischen Magazin 'GOLEM' gestellt und zusammen mit den Antworten in der Ausgabe vom November 1999 veröffentlicht.
1   Welche jüdische Symbole möchten Sie
in das nächste Jahrtausend mitnehmen?
 
  Auf den Fensterbank meiner Wohnung in Berlin steht in dem Zwischenraum zwischen den beiden Doppelfenstern eine Menora, die ich vor vielen Jahren von einer nicht-jüdischen Freundin geschenkt bekam. Da ich im ersten Stock wohne, ist die Menora deutlich von der Straße aus zu erkennen. Irgendwie ist diese Menora meine äußere Bekenntnis zu meinem Judentum, denn sie ist das älteste und zugleich wichtigste Symbol des Volkes Israel, dem ich mich zugehörig fühle.

An der Schwelle zu meinem Zimmer ist rechter Hand an dem Türpfosten eine Mesusa angebracht, den mir ein israelischer Freund am Ende seines Aufenthalts in Deutschland bei der Aufgabe seiner Wohnung schenkte. Ich war damals sehr glücklich über das Geschenk, denn sie erinnert mich immer wieder an den gemeinsamen Erlebnisse in Berlin. Für mich ist diese Mesusa meine innere Bekenntnis zu meinem Judentum.

Seit nun fast vier Jahren hängt ein Davidstern an einer Kette um meinen Hals. Er ist mein 'Ehering' und wurde mir von meiner nicht jüdischer Frau zu unserer Hochzeit umgehängt. Ich trage ihn als Zeichen meiner Liebe und Verbundenheit zu meiner Frau, aber ich habe Probleme ihn als Zeichen meines Judentums zu akzeptieren.

Als erstes stört mich, dass der Davidstern vor etwa dreihundert Jahren als jüdische 'Antipode' zum christlichen Kreuz eingeführt wurde. Er fand schnelle Akzeptanz und Verbreitung in Europa und wurde später zum politischen Symbol der zionistischen Bewegung, womit wir bei meinem zweiten Problem mit diesem Zeichen angelangt sind. Weiterhin belastet mich seine Verwendung als 'Gelber Stern' im Nationalsozialismus zur Stigmatisierung, Isolierung und Ermordung der Juden Europas. Die Tatsache, dass der Davidstern mit der Gründung des Staates Israel zum Hoheitszeichen dieses Staates wurde, macht mein Tragen dieses Symbols auch schwierig, denn für mich ist Israel zweifellos ein jüdisches aber nicht ein europäisches Land, ich aber bin ein jüdischer Europäer.
 
2   Wie und was könnte eine europäisch-jüdische
Identität neben Israel und Amerika sein?
 
  Egal wie oder was eine europäisch-jüdische Identität sein oder werden soll, darf nach Auschwitz einer Tatsache nicht verkannt werden: als Jude in Deutschland zu leben, wird noch lange, lange Zeit ganz spezifische Probleme innerhalb einer europäischen Identität mit sich bringen. Ich, der hier lebe, muss mich nicht nur gegenüber Juden aus Israel und Nordamerika, sondern auch gegenüber andere europäischen Juden immer wieder rechtfertigen oder erklären. Und in Berlin, dem ehemaligen Zentrum des Massenmords zu leben, konfrontiert mich und den Besucher fast ständig mit dieser Vergangenheit. Positiv gewendet, kann und sollte das jüdische Leben in Deutschland nicht nur zur Behauptung jüdischen Daseins nach Auschwitz dienen, sondern anderen Juden in Europa und außerhalb aufzeigen, dass es trotz Auschwitz sich lohnt in diesem Land zu leben.

Unsere Lage als Juden in Europa hat gänzlich andere Ausgangsbedingungen und Realitäten als in Israel oder Nordamerika. Israel befindet sich in einer kulturellen Auseinandersetzung zwischen europäischen und orientalischen Identitäten, d.h. das Land bringt zwar wichtige Beiträge hervor, aber aus einer anderen Sicht der Welt als in Europa, zudem wird der Alltag durch den Kampf um Selbstbehauptung und Existenzrecht mitgeprägt.

Die große Mehrheit der Juden in Nordamerika, die weder Auschwitz erfahren haben noch den heutigen Existenzkampf Israels als Alltag erleben, haben eigentlich die besten Voraussetzungen ihre kulturelle, gesellschaftliche und religiöse Identität unbelastet von Vergangenheit oder Gegenwart zu entfalten. Aufgrund ihre kulturellen Wurzeln sind ihre Beiträge vielfach von einem europäischen Hintergrund geprägt, aus diesem Grund werden amerikanisch jüdische Ansätze in jüdisch-europäischen Kreisen mit großem Interesse und viel Neugier aufgenommen. Ein wichtiger Unterschied zeigt sich dennoch: dort fehlen die multikulturellen und multiethnischen Prägungen der heutigen europäischen Juden zwischen Moskau und Dublin, Oslo und Sevilla. Hinzu kommt eine viel größere Unterschied im Alltag für europäische Juden zwischen dem Ural und dem Atlantik im Vergleich zum jüdischem Leben zwischen Boston und Los Angeles.

Schauen wir auf unsere Lage in Deutschland. Es war das Herzland der ashkenasischen Diaspora. Die deutsche Sprache ist die Grundlage der jiddischen Sprache und der jiddischen Kultur in Osteuropa gewesen. Deutschland ist Heimat für Moses-Mendelsohn und der jüdischen Reformbewegung gewesen. Deutschland hat hervorragende jüdische Persönlichkeiten in Wissenschaft, Kultur und Politik hervorgebracht, die europäische Kulturgeschichte mitgeprägt haben. Die 'jüdische' Neuzeit hat ihre Heimat in Europa. Ich meine, dass das europäische Judentum Entscheidendes zu einer kulturellen jüdischen Identität in der heutigen Welt beigetragen hat.

Wir brauchen uns, trotz Auschwitz, als deutsche und europäische Juden nicht hinter den Leistungen der Juden in Israel oder Nordamerika zu verstecken. Um eine starke eigenständige europäische Identität zu entwickeln ist es erforderlich dass wir den spezifisch jüdischen Beitrag zur europäischen Kultur seit der Entstehung der ersten jüdischen Gemeinde in Rom aufarbeiten und Kenntnisse darüber verbreiten. Eine jüdisch-europäische Identität kann aber nicht allein eine wissenschaftlich-theoretische sein. Wir müssen durch eigenständige europäische Beiträge unseren Platz neben den Juden in Israel und Nordamerika definieren und ausbauen. Hierzu gehört die Entfaltung einer spezifisch europäische Ausprägung bzw. Fortentwicklung des religiösen Lebens. Durch transeuropäische Konferenzen, Treffen und Begegnungen in den Bereichen Kultur, Religion, Wissenschaft und Politik können wir neue Aspekte in die Diskussion über das Judentum im nächsten Jahrhundert einbringen. Die europäisch-jüdische Stimme sollte sich auch publizistisch niederschlagen in Form einer mehrsprachig europäisch-jüdischen Magazin. Schon jetzt werden Filme mit jüdischem Inhalt für Fernsehen und Kino überall in Europa produziert und tragen somit zur vielstimmigen Austausch unter den Juden innerhalb und außerhalb Europas bei.

Die Solidarität unter europäischen Juden aufgrund des überall noch vorhandenen Antisemitismus ist meiner Meinung nach mit konstitutiv für die Herausbildung einer europäisch-jüdischen Identität. Die Gratwanderung bei der Herausbildung einer europäisch-jüdischen Identität wird zwischen Assimilierung und religiöse Borniertheit, dass heißt Intoleranz verlaufen.
 
3   Wer ist Jude?

 
  Mein Vater hieß Goldlust und seine Familie stammte aus Galizien. Seine Großmutter hieß Bernstein und stammte zuletzt aus Beuthen in Oberschlesien. Meine Mutter hieß Reiss und ihre Familie stammte aus dem Bereich von Südmähren wo sie seit Generationen lebten. Beide haben einen ellenlangen 'reinrassigen' jüdischen Stammbaum. Es gibt keinen Zweifel ich bin 'Volljude' im Sinne der Halacha und nach Auffassung von Adolf Hitler! Aber was nützt diese Art der Definition,

- wenn ich in keiner Weise jüdisch leben, denken oder handeln würde?
- wenn ich mich selber nicht als 'Jude' empfinde?
- wenn ich nichts an jüdischem Wissen oder Alltag an meine Kinder weitergebe?

Es zeigt sich, dass zum 'Jude' sein deutlich mehr gehört als eine jüdische Mutter! (Und nicht einmal die brauche ich nach orthodoxer Auffassung, wenn ich die Konversion zum Judentum vollziehe.) Überall in der jüdischen Welt außerhalb von Israel werden Kinder, die 'nur' einen jüdischen Vater haben in vielen jüdischen Gemeinden aufgenommen, vorausgesetzt sie nehmen als Kinder mehr oder weniger aktiv am religiösen und kulturellen Leben der Gemeinden teil und machen den Bat / Bar Mitzwa.

Das Grundproblem liegt in der Tatsache begründet, dass ein 'Keine-Ahnung-Null-Bock-Jude' jederzeit mit dem Geburtschein seiner jüdischen Mutter sofort Aufnahme in allen jüdischen Gemeinden, gleichgültig welche religiöse Richtung, findet. Dieses 'unbefriedigend' zu nennen ist noch britisches 'Understatement'!

Also, positiv herum: meiner Meinung nach, soll jeder 'Jude' sein dürfen, der oder die sich mit dem Judentum religiös und/oder kulturell beschäftigt hat und sich diesen Inhalten 'zugehörig' fühlt. Dieses ergäbe eine viel interessanteres Aufnahmegespräch als manche der Prozeduren, die heute verlangt werden. Eine solche Herangehensweise bedeutet vermutlich das Ende der Einheitsgemeinde, was sowieso eine deutsche Besonderheit im europäischen Chor darstellt. Ich würde diese 'würdige' Institution jederzeit opfern, wenn ich dafür eine Gemeinde von engagierten Juden im Tausch bekäme! Ich will nicht verhehlen, dass es natürlich deutliche Unterschiede in meiner 'Traum-Gemeinde' geben würde. Menschen wie ich, der durch Auschwitz große Teile seine Familie verloren hat, oder Juden, die sehr religiös aufgewachsen sind, werden deutlich anders geprägt sein, als jemand der zum Judentum übertritt, aber diesen Unterschied gibt es schon heute, denn selbst die orthodoxen Strömungen nehmen Konvertierte auf.

Jude wird man auch durch den historischen und täglichen Antisemitismus. Jude als Schicksalsidentität spielt eine große Rolle nicht erst seit Auschwitz. Die Geschichte zeigt, dass jede bedrängte Gruppe mehr oder weniger zusammengeschweißt wird und der Druck von außen Gegendruck erzeugt nach der Art "Jetzt-erst-recht-Jude-sein."
 
4   Was könnte jüdische Kunst sein?

 
  Alles was vom Inhalt sich mit dem Alltag von Juden in der Welt beschäftigt. Jüdische Künstler schaffen nicht jüdische Kunst durch ihre Abstammung. Es kommt auf die Inhalte an. Somit können Nicht-Juden selbstverständlich zur jüdischer Kunst beitragen ­ auch wenn dieses einige nicht passen sollte. Vielleicht möchten die Kritiker gerne, dass der Künstler zuerst konvertiert, bevor er jüdische Kunst schafft?

- Ich möchte, dass jüdische Kunst mich bestärkt in meiner jüdischen Identität ­ auch durch kritisches Hinterfragen.
- Ich möchte, dass jüdische Kunst mich über jüdisches Leben woanders in der Welt informiert.
- Ich möchte, dass jüdische Kunst mich amüsiert und unterhält bei der Auseinandersetzung mit dem jüdischen Alltag.
- Ich möchte, dass jüdische Kunst mit Interesse, Neugier und Freude von der nicht-jüdischen Umwelt auf- und angenommen wird.